LIBREAS #29 – „Bibliographien“. Call for Papers

LIBREAS #29 – „Bibliographien“. Call for Papers

Ausgangssituation
Es scheint, als würdigte man die Praxis des Bibliographierens heute lange nicht mehr so wie noch vor einigen Jahrzehnten. Lange galten Bibliographien als eine wesentliche Informationsinfrastruktur der einzelnen Wissenschaftsfelder. Entsprechend groß war der Aufwand und Personaleinsatz für ihre Erstellung. An der Erstellung von Bibliografien waren sehr viele Akteure beteiligt – Akademien etwa für Fachbibliographien, Bibliotheken für National- und Regionalbibliographien oder auch kommerzielle Anbieter wie Verlage oder Antiquariate. Heute scheinen Bibliografien, wo sie überhaupt noch von Institutionen gepflegt werden, eine nachgeordnete Nebenaufgabe zu sein. Aus dem Fachdiskurs wurden sie längst durch andere Themen verdrängt. Die DNB verzeichnet unter dem Schlagwort „Bibliografie“ die drei jüngsten Publikationen für das Jahr 2013. Das bestätigt den Trend, den Dirk Wissen 2008 in seiner breit angelegten Studie zur „Zukunft der Bibliografie – Bibliografie der Zukunft“ ermittelte. (Berlin: Logos, 2008) Das Verzeichnen des Schrifttums verliert angesichts der Durchsetzung digitaler Medialität an Bedeutung. Die Zukunft muss mit direkter Volltexteinbindung, interaktiv multimedial, Domänen übergreifend und dynamisch gedacht werden, weshalb man von Medio- und Wikigrafien sprechen wird. So jedenfalls die These von vor acht Jahren.
Definition
Das Bibliographieren lässt sich bekanntlich traditionell definieren als systematischer, bestandsunabhängiger Nachweis (wissenschaftlicher) Literatur zu bestimmten mehr oder weniger eng umrissenen Themen, Regionen, Publikationsformen, Personen und vielem mehr. Ein dezidierter Mehrwehrt gegenüber klassischen Bibliothekskatalogen war und ist die Verzeichnung bibliographisch unselbständiger Publikationen wie Zeitschriftenartikeln und Sammelbandbeiträgen – häufig auch mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Ebenso zeichnen sich Bibliographien in vielen Fällen durch eine differenzierte Sacherschließung berücksichtigter Literatur aus. Neben den bereits erwähnten typischen Formen Nationalbibliographien, Regionalbibliographien (Landes-/Kantonsbibliographien) und Fachbibliographien, sind auch Spezialbibliographien und Personalbibliographien nicht selten. Ebenso wurden beispielsweise Bibliographien zu Bibliographien mehr als einmal herausgegeben. Details kann man unter anderem sehr schön in dem 1999 zum sechsten Mal und zugleich letztmalig aufgelegten Handbuch der Bibliographie von Friedrich Nestler (Stuttgart: Hiersemann) nachlesen.
Mehrwerte und Widersprüche
Heute mutet der Status von Bibliographien jedoch relativ ungeklärt an, insbesondere der von wissenschaftlichen Fachbibliographien. Grundsätzlich scheinen viele Fachdisziplinen ihre Bibliographien weiterhin zu schätzen, gleichzeitig wird es durch die zunehmende Projektorientierung der Wissenschaften immer schwieriger, die Arbeit an diesen nachhaltig zu finanzieren. Die gegenwärtige Transformation der Sondersammelgebiete auf Fachinformationsdienste, für die sich Bibliotheken regelmäßig mit neuen Konzepten bewerben müssen, ist nur ein sichtbares Beispiel dafür. Durch diese wird die projekthafte Organisation der Wissenschaft auf die Erwerbungspolitik übertragen: Die Erwerbung von Medien scheint immer mehr auf den aktuellen Bedarf ausgerichtet zu sein, obwohl Wissenschaft immer auch darauf angewiesen ist, Literatur mit einer langfristigen Sammlungsperspektive zu nutzen – ansonsten kann sie nicht (oder nur mit hohem finanziellen Aufwand) auf vorhandenem Wissen aufbauen. Dennoch scheint die Strategie einer vollständigen Sammlung und Vorhaltung des gesamten potentiell für die Wissenschaft relevanten Publikationsaufkommens zugunsten einer konkreten Nachfrageorientierung aufgegeben zu sein. Sind Bestände jedoch nur noch verstreut verfügbar, müsste eigentlich die Bedeutung der Literaturdokumentation zunehmen. Ein Mehrwert von Bibliographien für die Leser/Rezipienten war bislang, den Aufwand für die systematische Kenntnisnahme von Literatur möglichst gering zu halten. Daraus ließe sich als These ableiten: Gerade in Zeiten projektorientierter Wissenschaft und damit auch einer projektorientierten Bestandserwerbung ist es umso wichtiger, einen bestandsunabhängigen, möglichst vollständigen Nachweis wissenschaftlicher Literatur zu haben.
Dieser Widerspruch tritt zu einer Zeit auf, in der technische Entwicklungen auch andere Fragestellungen für die bibliographische Praxis aufwerfen. Mehrere Projekte versuch(t)en sich beispielsweise an automatischen Formen der Sacherschließung. Sie versprechen, den Prozess der Erschließung – der auch für die Bibliographien notwendig ist – effektiver sowie personal- und kostengünstiger zu gestalten. Außer den geringeren Kosten verbindet sich mit den automatischen Verfahren weitere Versprechen: Ein Beispiel ist die Nutzung moderner Informationstechnologien, um Bibliographien Teil des Semantic Web werden zu lassen. Im Kontext der Diskussionen um die Bibliothek 2.0 wurde das Social Cataloging als eine zukunftsträchtige Entwicklung beschrieben. Das kollaborative Erschließen galt als ein möglicher Ersatz von zentralen, institutionalisierten Redaktionen. Obwohl die Bibliothek 2.0 kaum noch als Begriff benutzt wird, ist diese Frage weiterhin relevant: Bei Fachbibliographien wird der kollaborative Ansatz bis heute mit offenem Ausgang in Bezug auf ihre Nachhaltigkeit und Qualität erprobt.
Akteure und ihre Arbeitspraxis / mögliche Fragestellungen
Was bei diesen Projekten oft nicht reflektiert zu werden scheint, ist die konkrete Arbeitspraxis des Bibliographierens: Wer bibliographiert eigentlich? Mit welcher Ausbildung und Zielsetzung? Was passiert beim Bibliographieren? Interessant ist zum Beispiel die Frage nach Status und Professionalität der Bibliographierenden: Auf der einen Seite haben sie durch die Arbeit des Selektierens, Kategorisierens, Erfassens und Beschreibens eine selten thematisierte Macht über die Wissensproduktion, auf der anderen Seite scheint ihr Status innerhalb der Wissenschaft als Hilfsarbeit beigeordnet. Dies erinnert an die gegenwärtig verhandelten Fragen, um den Status den die Produktion und Veröffentlichung von Forschungsdaten hat. Es könnte sich demnach lohnen, Parallelen zwischen Bibliographieren und Erhebung von Forschungsdaten als Teile des Forschungsprozesses herauszuarbeiten. Obwohl die Situation bei National- und Regionalbibliographien durch ihre institutionelle Anbindung an Bibliotheken gesichert erscheint, lassen sich auch bei ihnen ähnliche Fragen stellen: Was ist ihr Status? Von wem werden sie wofür genutzt? Definieren sich Nationen über Nationalbibliographien? Definieren sich Nationalbibliotheken über ihre Nationalbibliographien? Was schließen sie ein und was schließen sie aus?
Ebenso ist denkbar, eine historische Perspektive über aktuelle bibliographische Konzepte und Arbeitspraxen hinaus einzunehmen: Wer hat wann und wieso mit welchen Ergebnissen bibliographiert? Eine erste Aufzählung wären Akademien, Bibliotheken, Institute, Verlage, einzelne Forschende. Doch was unterscheidet diese von unterschiedlichen Einrichtungen erstellten Bibliographien und was verbindet sie? Was lässt sich daraus für die Gegenwart und Zukunft des Bibliographierens lernen? Beim Bibliographieren wird dem Anspruch nach umfassend und möglichst vollständig erschlossen. Gleichzeitig heißt bibliographieren auch immer auswählen, aussparen und ordnen. Die Wissenschaftsforschung, beispielsweise die Akteur-Netzwerk-Theorie im Anschluss an Bruno Latour, (Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford: Oxford University Press. 2005) geht bekanntlich davon aus, dass die Infrastruktur, an und mit der Wissen produziert wird, einen Einfluss darauf hat, was überhaupt gefragt und geforscht werden kann. Werden Bibliographien als Teil dieser Infrastruktur verstanden, dann haben sie auch einen Einfluss auf die Wissenschaften, in denen sie genutzt werden. Spannend wäre zu untersuchen, wie genau sich dies realisierte, was an Forschungsfragen durch Bibliographien möglich und unmöglich wurde. Sind inter- und transdisziplinäre Inhalte wohlmöglich weniger verfolgt worden? Und schließlich ist das Bibliographieren auch ein Teil jedes Forschungsprozesses selbst, wie sich mittlerweile unter anderem unschwer an der weiten Verbreitung von Literaturverwaltungssoftware ablesen lässt. Wie verändert sich dieser Forschungsprozess und das, wenn man so will, Gebrauchsbibliografieren, wenn nicht mehr auf bestehende Bibliographien zurückgegriffen werden kann?
Für die Ausgabe #29 der LIBREAS. Library Ideas suchen wir also Beiträge zum Thema Bibliographien. Wie angezeigt, lässt sich dieses sowohl aus arbeitspraktischen, theoretischen, zukunftsbezogenen oder historischen Blickwinkeln betrachten. Genauso unterschiedlich kann auch die Beitragsform sein: vom wissenschaftlichen Artikel, Arbeitsbericht, über Rezension und Interview bis zum Essay ist alles willkommen. Über Einreichungen zu diesem Schwerpunkt hinaus, sind wie immer auch Beiträge zu anderen Themen sehr gerne gesehen. Alle Einreichungen sollten bis zum 31.03.2016 bei uns sein (via redaktion@libreas.eu).
Eure / Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas
(Berlin, Bielefeld, Chur, München)

[Foto Credits: ninara @ flickr]